Tore zu anderen Welten



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Der kleine Felix setzt sich zu seinem Opa auf den Schoß und fragt ihn nach einer Geschichte: ,,Opa, Opa, erzähl mir was.", sagt Felix aufgeregt, denn er weiß, Opa hat immer spannende, ja fantastische Geschichten auf Lager. Opa nimmt Felix auf seine Beine, lehnt sich in seinem Schaukelstuhl zurück und lässt sich von dem rhythmischen Hin- und Herschaukeln inspirieren.

,,Lass mir dir von einer fremden Welt erzählen, mein lieber Felix.", beginnt Opa ,,Irgendwo da draußen existiert eine Welt, verborgen hinter Toren aus tanzenden Spiegeln."
,,Was meinst du mit Toren aus tanzenden Spiegel?", fragt Felix verwirrt.
,,Nun," antwortet Opa, ,,die Tore sind ein bisschen wie die Spiegel in unserem Badezimmer, nur weniger starr und glatt. Sie sehen aus als würden sie tanzen. Zu einer Melodie, die wir nicht hören können, folgen sie dem Rhythmus ihrer Umgebung. Diese Tore erlauben es Außenstehenden nicht einfach in die Welt hinein zu blicken. Stattdessen reflektieren sie die Umgebung des Betrachters und die Pracht und Schönheit der dahinter liegenden Welt bleibt verborgen. Wenn du davor stehst, realisierst du gar nicht, wie groß und beeindruckend diese Welt ist, die sich dahinter verbirgt. Stattdessen siehst du nur, was dir bereits bekannt ist und von den Toren widergespiegelt wird - deine eigene Realität, deine dir vertraute Umgebung. So, wie du dich selbst siehst, wenn du in einen Spiegel blickst." Felix schaut seinen Opa fasziniert an, der ruhig mit seiner Erzählung fortfährt.
,,Wenn du jedoch erkennst, dass die Spiegel Eingänge sind und du in die dahinter liegende Welt eintauchst, wirst du auf unzählige, erstaunliche und fantastische Bewohner treffen. Es gibt bezaubernde Kreaturen aller Größe und Farbe. Die Vielfalt und der Reichtum des Lebens in dieser Welt sind atemberaubend. Doch die Kreaturen werden dir vorerst fremd erscheinen, denn sie ähneln den Lebewesen unserer Welt nur entfernt. Sie bewegen sich zum Beispiel auf andere Art und Weise fort als wir es tun und sie haben andere Erscheinungen. - jedoch keineswegs weniger faszinierend als unsere Tiere und Pflanzen.

,,Sie fühlen sich auch anders an." Opa streicht Felix über den Arm, woraufhin er ihn mit großen Augen anblickt. ,,Die Haut hat sich an deren Lebensraum angepasst, so wie unsere Körper zu unserer Welt passen und wir uns hier fortbewegen können und reden können, so haben sich die Körper der mystischen Wesen an ihre Welt angepasst.
Es gibt riesengroße Wesen, tausend mal so groß und schwer wie du und ich. Sie bewegen sich majestätisch durch den Raum und kleinere Kreaturen haben großen Respekt vor ihnen. Denn andere sind winzig klein." Opa schließt ein Auge und schaut Felix durch einen kleinen Spalt zwischen seinem Zeigefinger und Daumen hindurch an. Felix tut es ihm gleich und lacht herzlich auf. Dann wird Opa wieder ernster und fährt mit seinen Beschreibungen fort: ,,Es gibt sogar Wesen, die von alleine leuchten können.", sagt er geheimnisvoll. ,,In manchen Gebieten dieser fremden Welt ist es so dunkel, dass sich einige Gestalten die Fähigkeit angeeignet haben, selbst für ein wenig Licht zu sorgen. Die Dunkelheit ist viel intensiver als unsere Nacht", sagt Opa. ,,Bei uns scheint noch der Mond, der für etwas Licht sorgt, aber in deren Welt ist es unvorstellbar dunkel, da gibt es keinen Mond und keine Sonne. Und daher haben manche Wesen gelernt selbst zu leuchten.

,,Es gibt auch Pflanzen, so ähnlich wie unsere Bäume und Blumen, die in dieser Welt wachsen und einen wunderbaren Lebensraum bieten. Sie haben die unterschiedlichsten Blätter und Blüten in magischen Farben, die eine wunderschöne, bunte Welt kreieren." Opa macht eine Pause und lässt die Bilder in seinem und Felix' Kopf wachsen.
,,Können wir diese Welt besuchen?", fragt Felix mit großen Augen.
,,Wir können Teile davon sehen.", sagt Opa. ,,Doch manche Teile dieser Welt bleiben uns vorerst verborgen, denn die Welt ist schwer zu erreichen für uns Menschen. Sie ist für andere Wesen gemacht, die dort besser hineinpassen als wir es tun. Und wir dürfen uns zuallererst bewusst machen, dass wir manchmal nur unsere eigene Realität sehen, die uns wie in einem Spiegel präsentiert wird und unser Bewusstsein öffnen, um uns auf diese fremde Welt einzulassen und ihre Schönheit und Vielfalt wertzuschätzen. Denn merke dir, mein lieber, nur weil du etwas nicht siehst, heißt das noch lange nicht, dass es nicht existiert. Vielleicht stehst du nur vor einem Spiegel, der dir den Einblick in eine fremde Welt erschwert."


*


Einige Jahre später denkt Felix nun zurück an die Geschichte seines Opas. Er spürt eine kühle Brise auf seinen Wangen, die sanft durch seine Haare streicht. In ihr tanzen tausende Salzkörner, die die Luft mit einem frischen und wohltuenden Duft versehen. Unter seinen Füßen spürt er den Sand durch seine Zehen rinnen. Diese kleinen, über Jahrhunderte hinweg geschliffenen Mineralien, die bereits eine weite Reise hinter sich haben - getragen von Wellen, Strömungen und Winden, haben sie sich hier versammelt. Zumindest für jetzt liegen sie ruhig eingebettet unter unzähligen ihrer Art.

Er lauscht den Wellen, wie sie rhythmisch und unentwegt gegen den Strand laufen, wie sie Sandkörner entwenden und neue Schätze bringen und sich pausenlos bewegen, wie das Leben selbst. Keine Sekunde ist wie die vorhergehende, jede Welle ist einzigartig und doch ähneln sie sich allesamt. Sie passen sich der Stimmung ihrer Umgebung an und haben sowohl ruhige und gelassene, als auch bedrohliche und verwüstende Gesichter. Doch wenn sie so sanft wie heute gegen das Ufer laufen, ist der hypnotisierende Rhythmus wie eine Decke, die den Strand einhüllt.

Felix blickt auf das weite Meer hinaus, das bis zum Horizont reicht und den Eindruck erweckt, nie zu enden. Er denkt über die riesigen Wassermassen nach, die diese unfassbare Tiefe des Meeres kreieren. Er denkt über die atemberaubende Vielfalt und Fremdartigkeit der Unterwasserwelt nach, die so nah ist und doch so fern. Er fragt sich, wie viele Lebewesen unter diesem glitzernden Schleier der Wasseroberfläche ihre Heimat gefunden haben. Wie viele Fische hier gerade nach Nahrung suchen, ob irgendwo vielleicht eine Delfinfamilie zieht oder Wale majestätisch durch das dunkle Wasser gleiten. Diese Welt, die direkt vor ihm liegt und dennoch verborgen bleibt, denn man sieht nur ihre Tore, die Oberfläche, die den Eingang zu dieser Welt bilden und nur unsere eigene Umgebung reflektieren ohne etwas von ihrer preiszugeben - ,,Wie ein tanzender Spiegel", denkt Felix und muss grinsen.



Tamara Müller