Wandernde Wolken
Sein Blick war entspannt in die Ferne gerichtet, seine Arme hinter seinem Kopf verschränkt,
und seine Körperhaltung gleichte der eines unbeschwerten fünfzehnjährigen Jungen, der nach einem ereignisreichen Tag im
Wald auf einer Lichtung zur Ruhe kam. Auch wenn er dieses Alter bereits vor zwei Jahrzehnten hinter sich gelassen hatte,
in diesem Moment fühlte er sich wieder jung und leicht. Er füllte seine kräftigen Lungen mit der warmen Mittagsluft und
genoss wie erfrischt sich seine Muskeln nach der Wanderung anfühlten. Mit der Abnahme des Adrenalins in seinen
Blutbahnen, nahm seine innere Entspannung zu und er genoss die belebende Wirkung der Natur verbunden mit körperlicher
Anstrengung. Seine Aufmerksamkeit war auf die kleinen weißen Kumulus-Wolken gerichtet, die sich vor dem strahlend blauen
Himmel unbeschwert vom Wind Richtung Westen tragen ließen. Die baumwollknospen-ähnlichen Wasseransammlungen bildeten einen
erfrischenden farblichen Kontrast zum tiefen Blau des Himmels. Die kontinuierlichen Formveränderungen hatten eine
entspannende Wirkung auf ihn und er ließ seine Gedanken den Wolken ähnlich treiben. Er spürte das weiche Gras unter seinen
Armen und Beinen, das ihn leicht kitzelte und ihm eine vertraute Nähe zur Natur vermittelte. Die vom jungen Frühling
hellgrün gefärbten Bäume am Rande seines Blickfeldes, verliehen dem Anblick einen weiteren komplementären Farbkontrast.
Die Blätter bewegten sich langsam im Wind und sorgten für ein konstantes Rascheln, das sich wie ein geheimnisvolles
Flüstern durch den Wald zog.
,,Eine kleine Wolke direkt über ihm, wurde soeben sanft durch die Luftströmungen auseinander
gezogen und in zwei nun voneinander wegtreibende kleinere Wattebäusche getrennt. Gleichzeitig löste sich eine hauchdünne
Schleierwolke zu seiner Rechten nach und nach auf und bald war an dieser Stelle nur noch das strahlende Blau des Himmels
zu sehen. Die konstante Veränderung des Himmelbildes, das ständig in Bewegung war und die verschiedensten Formen und
Musterungen kreierte, war eine wahre Imaginationsquelle. Sein Gehirn war unentwegt daran versucht, ihm bekannte Formen
in die Wolkenbilder hineinzuinterpretieren. Er sah Tierformen, menschenähnliche Gesichter mit großen Augen und seltsam
verzerrten Mündern. Er sah Echsen, Hunde, Schmetterlinge und dinosaurier-ähnliche Gestalten. Doch das reichte ihm heute
nicht. Er war an diesen Ort gekommen, um etwas neues zu sehen, etwas ungewöhnliches. Er versuchte seine Gedanken so frei
zu machen, wie es ihm möglich war und seinen Geist für neue Formen und neue Ideen zu weiten. Seine Zeichenmappe und die
Kohlestücke lagen wartend neben ihm, bereit in eine neue Zeichnung verwandelt zu werden. Er schloss seine Augen für einen
Moment, atmete die frische Waldluft ein und konzentrierte sich darauf seine Gedanken zu entspannen. Nach einigen Momenten,
öffnete er seine Augen wieder. Da sie sich nun an die Dunkelheit hinter seinen geschlossenen Liedern gewöhnt hatten,
blendete ihn der helle Himmel für einige Sekunden. Doch seine Pupillen passten sich schnell der helleren Umgebung an und
er folgte erneut den sich wandelnden weißen Formen vor seinem Auge.
Nach einer Weile entdeckte er zwei dunkle Augen, die aus einem Meer von Weiß hervorstachen.
Sie waren umrandet von einer unebenen Maserung, die an warzenartige, ledrige Haut erinnerte. Die Augen, die er als solche
interpretierte, waren tief in dunkle Höhlen eingebettet und hinter seitlich angesetzten riesigen Ohren kamen mehrere
Tentakeln hervor, die sich bedrohlich um einen kleinen ovalen Wolkenbausch schlangen. Es sah aus wie ein elephanten-ähnlicher
Oktopus, der versuchte eine Beute mit fünfzehn Tentakeln zu fangen.
Blitzschnell griff er nach seinem Zeichenblock und der schwarzen Kohle und begann die Kreatur,
die vor seinen Augen entstand, zu Papier zu bringen. Er tauchte in eine andere Welt, in der seine Phantasie die einzigen
Grenzen des Möglichen darstellten und vergaß seine Umgebung und die Wolken. Die ersten Kohlestriche begannen langsam die
bösartigen Augen der Kreatur zu umreißen, die hinter tiefen Hautschwulsten hervortraten und wie Pfeile auf eine Beute
gerichtet waren. Er brachte einen Todeskampf zu Papier, in dem nur einer als Sieger hervor gehen konnte. Die
kugelfisch-ähnliche Beute war jedoch nicht hilflos, sie war mit giftigen Fangzähnen ausgestattet, die den ihm größentechnisch
überlegenen Oktopus mit einem gezielten Biss außer Kraft setzten konnten. Der Oktopus hingegen musste seine Beute töten,
bevor er ihm die giftigen Fangzähne ausbeißen könnte, um ihn dann genüsslich zu verspeisen.
Nach mehreren Minuten des Zeichnens, blickte er zufrieden von seinem Papier auf. Ein Lächeln
breitete sich auf seinem Gesicht aus und er kehrte in die Realität zurück. Er platzierte seinen Zeichen block neben sich,
legte sich erneut auf den Rücken und verschränkte seine Arme wieder hinter seinem Kopf. Wie friedlich die Wolken doch
mehrere Kilometer über ihm nach Westen trieben und kontinuierlich neue Formen annahmen.
Tamara Müller